20 May
20May

Ich träume jede Nacht und spüre dabei meinen Körper nicht mehr. Ich bin jeweils mit meinem Geist in diesem Traum. Letzte Nacht träumte ich von einem Raum mit Malereien und Verzierungen an den Wänden. Ein spezieller Raum. Die Wände waren dunkel, fast schwarz mit goldenen Schnörkeleien versehen. Kein Möbelstück, keine Bilder. Ein kahler, leerer Raum. Der Raum zog sich in die Länge und ich fühlte mich da nicht wohl. Ich träume immer wieder von alten Häusern. Ich weiss, dass es Häuser sind, in denen ich mal gewohnt habe. In vielen Träumen sind die Häuser mal total verlottert, dann wieder sauber und gepflegt. Ich besuche darin Schlösser und Villen. Schlafzimmer mit verborgenen Hohlräumen in den Wänden, wobei nur ich wusste, wo diese versteckt waren. Dann wieder die gleichen Häuser leer und schmutzig. Ich wandle dann durch die leeren Räume und erinnere mich an die schönen, erfüllten Tage. Tage gefüllt mit Gelächter, Musik und Essen. Gedecke mit Silber und Blumensträussen, Kristallleuchter an den Decken. Frauen in wunderschönen Kleidern, die an mir lachend und schwatzend vorbeirauschten. Mal bin ich ein Kind, mal ein Teenager. Mal bin ich in einem Schloss der Turmwächter, mal die Dame des Hauses, die sich um alle kümmert. Ich träume davon, wie ich auf einer Strasse laufe in Richtung eines Hauses, der Weg gezäumt mit Zypressen. Ich sehe die Häuser so, wie sie jetzt aussehen. Mit Bedauern musste ich auch mal in einem Traum feststellen, dass das eine Haus abgerissen wurde. Manchmal bin ich in alten Holzhäusern mit niederen Decken und engen verwinkelten Gängen. Oder in einem Haus, das nur aus Steinen gebaut und am Hang eines riesigen Stausees stand. Wenn ich aus der Eingangstüre hinaus ins Freie trat, sah ich die Berge, welche den See umschlossen. Sah viele kleine Häuser am Hang. Fragte mich dann, ob dies ein Hotel oder ein Dorf war. Seit ich die Seelen nicht mehr bei mir habe, haben die Träume über die Häuser aufgehört. 

Als Kind träumte ich viel davon, dass ich fliegen konnte. Ich flog dann über das Dorf, in dem ich aufgewachsen bin. Flog über die Wolken, über das Land. Über den See. Träumte davon, dass eine riesige Flutwelle das Dorf überschwemmte. Ich stand oft am Seeufer und sah die Welle auf mich zukommen. Doch sie traf mich nie. Wenn die Welle mich erreichte, glich sie der Welle am Strand, wenn ich - voller Freude am Meer zu sein - meine Sandalen ausziehe, zum Meer renne und meine Fusszehen an die Grenze halte, bei der Sand und Meer aufeinandertrafen. Der Moment, wenn das Wasser meine Zehen berührte, ich die Augen schloss und den Salzgeruch des Meeres in mich aufsog. Die Wärme der Sonne auf meinem Gesicht spürte und einfach nur glücklich war, wieder am Meer zu sein. Von all diesen Träumen vergass ich einen nie: Ich war ungefähr zwölf oder dreizehn Jahre alt. Ich stand an einem Hang. Unter meinen Füssen ging es steil bergab. Hinter mir eine Wand. Als ich aufblickte, sah ich eine Brücke vor mir. Links und rechts davon sah ich nichts. Ich sah nicht, wie weit es nach unten ging. Nur weiss. Die Brücke war in einer Wolke und bestand aus Seilen, welche in die leere Luft ragten. So, dass man sich an beiden Seiten halten konnte. Doch die Brücke sah nicht so stabil aus. Sie schwankte leicht hin und her im Wind. Am anderen Ende der Brücke sah ich beim ersten Mal nichts. Ich wusste aber, dass ich über diese Brücke musste, weil am anderen Ende meine Heimat war. Doch wieso hatte ich Angst? Niemand verfolgte mich. Ich fühlte mich doch sicher. Eine Ruhe herrschte hier oben - kein Vogelgezwitscher, keine Autogeräusche. Nichts, einfach nur Stille. Jetzt gerade, wenn ich daran denke, erinnere ich mich wieder an alles. Ich sehe die Brücke vor mir. Fühle, dass ich da hinübermusste. Doch wieso? Ich wusste es nicht. Vorsichtig setzte ich meinen Fuss auf die Brücke. Mich links und rechts haltend, laufe ich langsam hinüber. Als ich in der Mitte der Brücke war, sah ich nichts mehr. Vor mir nichts, hinter mir nichts. Links und rechts von mir nichts. Nur weisse Wolken. Auf einmal sah ich das Ende der Brücke. Die Wolken verschwanden und gaben mir den Blick preis. Ein Schloss - ein weisses Schloss. Ähnlich wie das Schloss Neuschwanstein im bayerischen Allgäu. Doch es war kleiner, bescheidener und mit lavendelfarbenen Fensterläden versehen. Beim Brückenende sah ich Gestalten mit Speeren. ‚Na toll!‘, dachte ich in diesem Moment. ‚Jetzt bin ich doch fast da und die wollen mich festnehmen!‘ Manchmal kehrte ich um und wachte auf. Manchmal blieb ich stehen und wartete ab und wachte auf. Doch eines Nachts, als ich wieder davon träumte, ging ich ganz hinüber und wurde freudig empfangen. Sie klopften mir auf die Schulter und lobten mich, dass ich mich getraut hatte. Nach diesem Mal träumte ich nie mehr wieder von dieser Brücke und auch nie mehr von sonst irgendeiner Brücke. Mit über zwanzig habe ich mal gelesen, dass eine Brücke im Traum dafür steht, dass man von einem Abschnitt des Lebens in einen anderen hinübergeht. Das Alte hinter sich lässt und sich zu neuen Ufern traut. Häuser stehen für das Innere in einem selber. Für die inneren Räume. Das Haus mit dem leeren Raum von letzter Nacht war kein Haus, das ich kannte. Es war kein Haus, von dem ich wusste, dass ich mal darin gelebt hatte. Ich war mit einer Gruppe unterwegs und wurde hineingeführt. Irgendjemand wollte mir das zeigen. Doch das Haus selber habe ich nicht gesehen. Nur den einen Raum. Doch für was steht der? Für mich selber? Damit ich ihn selber füllen kann? Ich werde sicher wieder davon träumen. Wenn die Zeit reif dafür ist.

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